Corona-Brief Nr. 52
Querdenker und Quer-Denker (24. Dezember 2021, Lesedauer 3 Minuten))
Die Pandemie sorgt täglich für Verluste. Ich bin mir daher dessen bewusst, dass meine Verstimmung alles andere als speziell oder gar originell ist. Nichtsdestotrotz – sie schmerzt.
Worum es geht? Darum, dass mir ein Titel aberkannt, wenn nicht gar gestohlen wird.
Nein, meinen Doktor darf ich (im Gegensatz zu einigen höher gestellten Personen) behalten. Aber den Quer-Denker habe ich abgeben müssen. Und das ist bitter! Ein ganzes Leben habe ich daran gearbeitet, diesen Titel zu erwerben und zu behalten. Klein habe ich angefangen als Querkopf, zuerst in der Familie, dann in der Schule und zunächst noch aus einer instinktiven Abwehr gegen alles, was sich frech als „normal“ bezeichnete. Später an der Universität erhielt ich die geistesgeschichtliche Legitimation für meine Haltung, und zu meinem Motto machte ich einen Aphorismus von Karl Kraus: „Die Richtung ist immer klar – gegen den Strom.“
Ach, ich könnte jetzt Seiten füllen mit Beispielen für die Anstrengung, die das Quer-Denken fordert, und für die Befriedigung, die es spendet. Wie bitter ist es, wird doch jetzt ein beachtlicher Teil unserer Gesellschaft mit dem Ehrentitel Querdenker belegt, und das für den schieren Akt des Nichtstuns in der speziellen Form des Sichnichtimpfenlassens.
In meinen Ohren ist das eine bodenlose Ungerechtigkeit. Ich habe mich mein Leben lang abgerackert, damit mein Quer-Denken Form bekommt und öffentlich erkennbar wird, während man jetzt offenbar durch kleine Verweigerungen und allenfalls noch durch abendliche Spaziergänge zu einem Querdenker, der es alltäglich problemlos in die Schlagzeilen schafft.
Daher appelliere ich hiermit an alle öffentlichen Sprecherinnen und Sprecher: Bitte nehmen Sie den ehrwürdigen Titel des Quer-Denkers (und natürlich der Quer-Denkerin) vor einer solchen Banalisierung in Schutz! Es gibt für Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht an einer kollektiven Abwehrmaßnahme gegen eine gravierende Pandemie beteiligen wollen, eine Reihe anderer Bezeichnungen, mit denen sie sicherlich besser charakterisiert sind. Sorgen Sie bitte dafür, dass man den wahrhaft und angestrengt Quer-Denkenden wieder den schuldigen Respekt zollt. Lassen Sie nicht zu, dass deren mühsames Lebenswerk öffentlich in eins gesetzt wird mit kleinen Akten der schieren Verweigerung oder gar mit Ignoranz und Schlampigkeit.
Retten Sie das Quer-Denken!