Corona-Brief Nr. 51
Tapfer, tapfer! (3. Dezember 2021)
An einem heißen Sommertag des Jahres 1975 stand ich mit den anderen Rekruten auf dem Appellplatz, um dort das Feierliche Gelöbnis abzulegen. Ich war 18 ½ Jahre alt, auf den Monat genauso alt wie mein Vater, als er im Frühjahr 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Ich nehme an, auch er hat ein Gelöbnis ablegen müssen, nein, es war sicher ein Eid, den er auf den Führer persönlich zu schwören hatte.
Ich war, wie gesagt, 18, und ich will meine damalige Sensibilität für Sprache nicht im Nachhinein hochstilisieren, aber ich sage die Wahrheit, wenn ich sage, dass mir damals an der Gelöbnisformel zwei Worte besonders auffielen. Zur Information, die Formel lautet:
„Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“
In der Sache war das einigermaßen selbstverständlich. In den Wochen seit meiner Einberufung hatte ich bereits erfahren, womit die Verben „verteidigen“ und „dienen“ im soldatischen Alltag gefüllt wurden: Der Verteidigung diente die Ausbildung an verschiedenen Waffen, während sich das Dienen im Gehorchen realisierte, und das in einem Ausmaß und einer Intensität, die ich in meinem bisherigen Leben nicht kennengelernt hatte.
Aber die kurze Formel enthielt noch etwas über das mir inzwischen Wohlbekannte hinaus, nämlich zwei Adverben zur näheren Bestimmung. Ich sollte geloben, „treu“ zu dienen und „tapfer“ zu verteidigen. Beide Worte waren mir suspekt; ich verband mit ihnen, ganz emotional und auf eine kaum reflektierte Art und Weise, ein Bewusstsein und ein Gedankengut, das mir, salopp formuliert, altmodisch, wenn nicht gar überholt erschien.
Treue, das war Mitte der siebziger Jahre eine in vielen Lebensbereichen zunehmend kritisch gesehene Tugend. Hinter Treue drohten die Vorstellungen von Blutsbrüderschaft, Männerbündlerei und Kadavergehorsam. Lautete nicht der Wahlspruch der SS „Meine Ehre heißt Treue“? Und was das Sexuelle anging, auch dort wurde Treue vielfach als überkommen betrachtet und die Aufforderung dazu als das Herrschaftsinstrument einer patriarchalischen Gesellschaft. „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, hatten unlängst meine älteren Geschwister skandiert, die Revolutionäre von 68.
Noch schlimmer: tapfer! Ich war während meiner Kindheit in den sechziger Jahren weiß Gott nicht das gewesen, was für meinen Vater und seine Generation ein „tapferer Junge“ war. Im Gegenteil: Ich war vorsichtig, zurückhaltend, ja, ängstlich, allem Gefährlichen, Riskanten abgeneigt, schnell bereit, es zu meiden, lieber zu Hause in Sicherheit zu sein, gerne auch mit mir alleine. Anders gesagt, ich war ein Stubenhocker, eine damals durch und durch abwertende Bezeichnung. Kein Wunder also, dass ich mit 18 zu denjenigen gehörte, die dabei waren, dem Wort und der Vorstellung von Tapferkeit zumindest durch mehr oder weniger ostentativen Nicht-Gebrauch seine bewusstseinsgeschichtliche und alltagsprägende Kraft zu nehmen.
Springen Sie jetzt bitte mit mir vom Jahr 1975 ins Jahr 2021. Vor ein paar Wochen standen in Nordrhein-Westfalen zwei Polizistinnen, 32 und 37 Jahre alt, vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, ihren bei einer Verkehrskontrolle angeschossenen Kollegen nicht unterstützt, sondern sich vom Tatort weg begeben zu haben. Der Vorwurf lautete auf „Körperverletzung durch unterlassene Hilfeleistung“. Das ist ein gut durchdachtes juristisches Konstrukt; aber natürlich stand unausgesprochen dahinter, was den beiden Frauen tatsächlich vorgeworfen wurde: Feigheit. Und damit implizite: fehlende Tapferkeit.
Die Polizistinnen schilderten im Prozess die Situation sehr anrührend, in der Sprache von Opfern, deren Angst verständlich und nachvollziehbar sein sollte. Der angeschossene Kollege entlastete sie, im Duktus kollegialer Wertschätzung. Doch das Gericht, eine altmodische Institution, die mehr an Buchstaben und Geist des Gesetzes und weniger an den Zeitgeist gebunden ist, sprach die beiden Polizistinnen schuldig und verurteilte sie zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung. Das war eine äußerst schwere Strafe, denn würde der Schuldspruch in einer höheren Instanz bestätigt, würde das für die beiden Frauen bedeuten, dass sie den Polizeidienst verlassen müssten.
Ich habe die Berichterstattung über den Prozess ziemlich aufmerksam verfolgt. Von Tapferkeit und Feigheit war darin nie die Rede. Das kann ich gut verstehen. Es wird allen, die sich dazu äußerten, vollkommen klar gewesen sein, dass man sich an diesen beiden Wörtern ganz entsetzlich die Zunge verbrennen kann. Feigheit und Tapferkeit sind im Alltagsdiskurs als Relikte einer überkommenen Geisteshaltung mittlerweile weitgehend diskreditiert. Und nebenbei gesagt, ich denke, mit der Treue steht es ähnlich, auch und gerade im privaten und sexuellen Bereich. Inzwischen wird der „Treuebruch“ ja sogar durch entsprechende Plattformen und Datingportale nicht nur erleichtert, sondern geradezu flächendeckend stimuliert.
Und jetzt noch ein dritter Sprung, ein kleiner, in den gestrigen Tag. Am Morgen war ich in eine Arztpraxis gegangen und hatte mir auf Anweisung von Wissenschaft und Regierung meine inzwischen dritte Corona-Impfung abgeholt. Den Rest des Tages habe ich dann weitgehend auf der Couch verbracht, mit einem linken Arm, auf den ich mich nicht legen und den ich nicht über Schulterhöhe heben konnte, und mit einem Kopf, der sich anfühlte wie mit Bleikugeln gefüllt, wenngleich nicht vollständig, sodass die Kugeln bei jeder Bewegung mal gegen die eine, mal gegen die andere Schläfe oder gegen die Stirn prallen konnten.
Und nun, Sie haben es kommen sehen, die Frage: War ich, bin ich tapfer? Habe ich aus schierem Eigennutz gehandelt und die Kopf- und Gliederschmerzen in Kauf genommen, um mich vor einer wesentlich gefährlicheren Krankheit zu schützen? Oder habe ich überdies ein gesundheitliches Risiko auf mich genommen, um mich selbst aus der Übertragungskette der Pandemie herauszunehmen und damit andere Menschen zu schützen, darunter Menschen, die ich gar nicht kenne und die mir nur sehr wenig bedeuten?
Und wenn ich das getan habe: War das tapfer?
Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia definiert Tapferkeit als „die Fähigkeit, in einer schwierigen, mit Nachteilen verbundenen Situation trotz Rückschlägen durchzuhalten. Sie setzt Leidensfähigkeit voraus und ist meist mit der Überzeugung verbunden, für übergeordnete Werte zu kämpfen.“ Ebendies habe ich im August 1975 gelobt. Es ging ja nicht um mich allein, den ich mit den besagten Waffen verteidigen sollte, sondern um das „Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“, also um einen „übergeordneten Wert“. Allerdings habe ich gleichzeitig, mehr oder weniger reflektiert, daran mitgearbeitet, dass das Wort und damit die Vorstellung von Tapferkeit aus dem Alltagsdiskurs verschwinden.
Und war ich nicht erfolgreich? Immerhin war ich ein winziges Rädchen in einem System, das den Kalten Krieg beendete, mag auch infrage stehen, ob das, was auf ihn folgte, besser ist als er. Und das Reden über Tapferkeit habe ich, zusammen mit vielen anderen, erfolgreich bekämpft – wenngleich der Beigeschmack dieses Sieges mir seit einiger Zeit immer unangenehmer wird.
Zumal jetzt! Denn sind wir nicht wieder im Krieg? Und bedürfen wir nicht wieder der Tapferkeit?
Bevor Sie mich jetzt in die böse Ecke stellen wollen, hören Sie mir doch bitte noch ein bisschen zu.
Faktum ist: Seit mehr als anderthalb Jahren schlagen wir uns mit dem Corona-Virus herum, das es unter anderem auf „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“ abgesehen hat. Und ist es nicht so, dass wir uns seitdem in jenem gerechten Krieg befinden, an dessen Möglichkeit wir seit Vietnam und spätestens seit Afghanistan nicht mehr glauben können?
Ich denke, es ist so. Dies ist ein gerechter Krieg. An unserem Feind, dem Virus, gibt es nichts zu verstehen oder zu tolerieren. Er ist ein Alien, zwar von unserer Natur generiert, aber ohne respektable Daseinsberechtigung, es sei denn, man begrüßte, aus welchen Gründen auch immer, schwere Krankheit, Massensterben, Schwächung sozialer Systeme, ökonomischen Schaden größten Ausmaßes etc. etc.
Ich jedenfalls sehe Corona als einen Feind und als nichts anderes. Es ist der Feind, den unser im Grunde höchst begrüßenswerter Alltagspazifismus nicht mehr für möglich gehalten oder gar kategorisch ausgeschlossen hat. Und dieser Feind mag einfach gestrickt sein, aber er ist „gut aufgestellt“. Mit dem schlichten Programm der Selbsterhaltung durch massenhafte Reproduktion und Ausbreitung versehen, passt er sich den Gegebenheiten optimal an und verfolgt seine Ziele ebenso stur wie effektiv. Sein vollständiger Mangel an Reflexionsfähigkeit und seine fehlende Diskussionskultur helfen ihm dabei enorm.
Und wir, wir sind die Angegriffenen. Allerdings schlagen wir nicht ebenso stur und effektiv zurück, sondern feiern unsere Reflexionsfähigkeit und führen unsere Diskussionskultur zu neuen Höhen. Unsere Abwehr des Virus vollzieht sich nicht nach dem Dogma der Vernichtungsschlacht, sondern in ständiger Abwägung von Effektivität auf der einen und Zumutbarkeit der jeweiligen Maßnahmen auf der anderen Seite. Bei einem Minimum von Aufwand und Behelligung der Bevölkerung soll ein Maximum an Seuchenbekämpfung geleistet werden. Eine schöne Absicht, aber sie führt in der Praxis zu einem permanenten Drehen an verschiedenen Stellschrauben und einem Hindernislauf der Rücksichtnahmen, stets gefolgt von einer vernichtenden Diskussion der jeweils letzten Maßnahmen.
Dabei ist das alles ja höchst nachvollziehbar. Eine entschlossene Vernichtungsschlacht gegen das Virus würde bedeuten: komplett geschlossene Grenzen und mehrere Wochen lang jeder in seinem Zimmer eingeschlossen; dann wäre das Land virenfrei. Aber das ist natürlich unzumutbar. Dagegen tolerieren wir volle Bundesligastadien und Diskotheken, schleichen wie die Katzen um den heißen Brei der Impfpflicht und erlassen schwer zu kontrollierende G-Regeln. Dabei nehmen wir in Kauf, dass zu Beginn der kalten Jahreszeit Hunderte dem Feind zum Opfer fallen und unser Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs gerät. Und es wird vermutlich noch weitergehen auf dem Mittelweg, der bekanntlich in Gefahr und höchster Not den Tod bringt (Friedrich von Logau, 1605-1655). Trotzdem heißt es: Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon, ein bisschen weniger hiervon, ein bisschen mehr davon, eine große Freiheit kassiert, eine kleine zurückgegeben etc. etc. –
Und wie steht es bei alldem momentan um die Tapferkeit? Ich bin dem Wort durchs Netz ein bisschen hinterher gegangen. Tapferkeit ist offenbar wieder sagbar oder „aussprechlich“ geworden, nämlich in Verbindung mit den Leistungen der Menschen im Gesundheitssystem. Darüber hinaus ergeht wohl vielerorts die Aufforderung, tapfer zu sein, auch an Menschen, die mit ihrem Mute ringend kurz vor dem ominösen Pieks in den Oberarm stehen. Die Wortkombination „tapfer, impfen“ erbringt momentan in der prominentesten Suchmaschine knapp eine halbe Million Treffer.
Kehrt also die Tapferkeit zurück? Vor ein paar Jahren hat sich der Zeitgeist das Wort Heimat aus dem Reservat zurückgeholt, in das man es wegen seiner braunen Vergangenheit gesperrt hatte. Seitdem gibt es unter anderem ein Heimatministerium in NRW, Heimatpreise, Heimatbeauftragte. Man kommt offenbar ohne das Wort nicht aus, wenn es darum geht, zeitgenössische Probleme der Identität zu besprechen.
Und ich könnte mir vorstellen, dass es momentan auch nicht ohne tapfer und Tapferkeit geht. Der Angriff des Virus setzt sich unvermindert fort. Die Zumutungen sind gewaltig. Als selbstständiger Künstler weiß ich, wovon ich rede. Ich weiß, wie tapfer ich schon am Morgen sein muss, um mich durch einen Tag zu arbeiten, an dem sich wieder einmal niemand für meine Arbeit interessieren wird. Wie viele andere muss ich meine Leidensfähigkeit permanent unter Beweis stellen, auch dann, wenn außer mir niemand hinsieht. Tapfer tue ich vieles, das wahrscheinlich nur ein „Als ob“ ist; und ein Tag ist schon gar nicht so schlecht gewesen, an dem es keine nennenswerten Rückschläge gegeben hat.
Und nun, als Quintessenz von allem, eine Frage. Ich frage all diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer vor der einzigen Abwehrmaßnahme gegen das Virus verwahren, die uns bislang bekannt ist: Liebe Impfgegner, wäre es nicht denkbar, ihr würdet all eure Eigenheiten und Eigentümlichkeiten und Identitäten und Idiosynkrasien in einem Akt der Tapferkeit aufheben? Sprich, euch mal eben impfen zu lassen. Womöglich nach dem Motto: „right or wrong, my country“. Was so ein Stubenhocker wie ich geschafft hat, das schafft ihr doch auch.
Und schaut mal: Ihr habt es mit Querdenken, Bockigkeit, alternativen Fakten und Theorien versucht, mit „habeas corpus“, Dickfälligkeit, Angst und Sorge. Seid ihr damit glücklich geworden? Vielleicht versucht ihr es jetzt einmal zur Abwechslung mit Tapferkeit. Ich verrate euch: Das fühlt sich gar nicht so schlecht an. Und die Kopfschmerzen waren auch nicht schlimmer als die nach einem verunglückten Abend in der Kneipe.
Also: „Tapfer, tapfer!“