Corona-Brief Nr. 50
Pandemiegewinner 7: Manfred (Pseudonym, 46), Impfgegner
„Ja, allseits Hallo. Tut mir leid, dass ich hier nicht meinen richtigen Namen nenne. Aber wenn ich fertig bin mit erzählen, dann wissen Sie, warum. Und ich falle gleich mal mit der Tür ins Haus:
Ich lasse mich nicht impfen. Mein letztes Wort.
Jetzt höre ich, wie Sie sagen: „Warum denn nicht? Ist doch im allgemeinen Interesse! Hast du vielleicht Angst? Ist doch nur so ein kleiner Pieks. Und danach ein bisschen Kopfschmerzen. Ist doch kein großes Ding. Kopfschmerzen hast du dir doch schon etliche Male selbst eingebrockt. Oder besser gesagt: eingeschüttet.“
Ja, klar . Alles richtig. Aber das Argument haut zielgenau daneben. Ich hab nämlich keine Angst, nicht vor dem Pieks und nicht vor irgendwelchen Nebenwirkungen. Und wissen Sie, was? Sie haben Recht! Ich finde es vollkommen richtig, wenn man im Interesse der Allgemeinheit ein paar persönliche Ressentiments überwindet. Mit sowas laufen Sie bei mir offene Türen ein. Wenn es um ein Verhalten im Sinne der Allgemeinheit geht, dann bin ich immer vorneweg. Stellen Sie sich vor: Ich bin einer von denen, die an der Fußgängerampel auf Grün warten, auch wenn meilenweit kein Auto in Sicht ist. Aber es könnte ja irgendwo ein Kind durch den Zaun gucken, und Kindern muss man ein gutes Beispiel geben. Also stehe ich wie ein Blödmann an der Ampel und warte, bis das grüne Männchen kommt.
Oder ein anderes Beispiel: Ich trenne Müll. Jawohl, vierfach. Biotonne, Papiertonne, Restmülltonne und neuerdings auch die gelbe. Manchmal stehe ich vor den Dingern, hab irgendwas in der Hand und muss wer weiß wie lange nachdenken, was in welche Tonne gehört. Dabei kann man überall nachlesen, also im Netz, dass der ganze Müll am Ende des Tages wieder in eine einzige Tonne gesteckt und irgendwo verbrannt wird, wenn er nicht sogar nach Afrika geschippert wird. Und das ist noch nicht alles. Auch aus der heiligen gelben Tonne werden am Schluss nur zwanzig Prozent wirklich recycelt, der Rest kommt zum Abfackeln oder zum Export. Aber! Alles in allem ist die Mülltrennerei ein Schritt in die richtige Richtung. Zwanzig Prozent sind zwanzig Prozent mehr als nichts. Und deshalb soll man da nicht mosern, sondern einfach mitmachen und hoffen, dass die ganze Angelegenheit sich kontinuierlich verbessert. So sehe ich das. Und so mache ich das auch.
Und, wie gesagt: Das mit dem Impfen sehe ich ähnlich. Fragen wir uns doch einmal: Was ist denn passiert? Antwort: Da ist so eine neue Pest in die Welt gekommen, aber diesmal mussten wir nicht fünfhundert Jahre auf ein Gegenmittel warten, sondern nur ein einziges Jahr. Wahnsinn! Und natürlich gehen über dieses Mittel die Meinungen erstmal auseinander. In fünfhundert Jahren wissen wir bestimmt mehr darüber. Haha. Aber erstmal gibt es dieses Pro und Contra und Hin und Her. Sieht schrecklich aus, aber wie soll es auch anders gehen? Im Ernst: Manchmal tun mir die Politiker richtig leid. Ich möchte jedenfalls nicht morgens aufstehen, mir die Inzidenzzahlen geben lassen und dann entscheiden müssen, wer wann wie wo rein darf und wer nicht. Nein, danke! Mein Respekt für die, die das machen.
Warum ich dann Impfgegner bin? Weil ich einfach nicht hab widerstehen können. Das Angebot war zu stark. Ich hatte schon meinen Termin für die Erstimpfung, und im Betrieb war von nichts anderem die Rede als davon, wie schnell man einen bekommt, da ist mir plötzlich aufgegangen, dass das jetzt meine Chance war. Geh da nicht hin!, hab ich mir gesagt, und sag allen, dass du nicht hingehst. Sei jetzt ein Impfgegner.
Sie fragen immer noch, warum?
Ja, warum.
Wenn ich das mal ganz unverblümt sagen darf: Weil ich ein anständiger Kerl bin und eine taube Nuss.
Jetzt fragen Sie: Was denn nun?
Und ich sage Ihnen: Eben beides. Ich hab im Leben nichts Besonderes zustande gebracht, aber ich hab auch keinen besonderen Mist gebaut. In der Schule war ich ein bisschen unter mittelmäßig, und bei mir war das leider nicht die Voraussetzung dafür, später irgendein Genie zu werden. Ich bin mittelmäßig auf die Welt gekommen und später dabei geblieben. Aus Absicht? Weil ich nicht anders konnte? Aus Faulheit? Ich weiß es nicht. Es ist gekommen, wie es gekommen ist. Ich hab in dem Betrieb gelernt, in dem mein Vater gearbeitet hat, und als der zugemacht hat, bin ich in den gegangen, in den die meisten Kollegen gegangen sind. Ich hab geheiratet und Kinder gekriegt, das alles hat einigermaßen funktioniert, aber das mit der Familie, das hat nicht so lange gedauert. Die Kinder brauchen mich schon nicht mehr, und meine Frau, ich glaube, die hat mich nie so richtig gebraucht.
Wie gesagt: Es gibt nichts Großes in meinem Leben, aber auch keine Katastrophen, zum Glück. Okay, ich habe immer mal wieder versucht, ein Stück nach vorne zu kommen. Aber bei mir ist das im Leben jedes Mal so gegangen wie damals, auf dem Fußballplatz, als ich ein kleiner Junge war. Immer hab ich versucht, durch die Leute nach vorne zu kommen, damit ich besser sehen konnte, und am Ende stand dann doch so ein langer Lulatsch vor mir, und ich sah noch weniger als vorher. Meine Frau sagt, ich hab keine Ellenbogen, aber man braucht ja nicht nur Ellenbogen, man braucht auch den Willen, sie auszufahren, und den hab ich wohl nicht.
Geschweige denn, dass mir irgendwas in die Wiege gelegt wäre. Gibt ja Leute, die haben so ein Irgendwas und können gar nichts dafür. Muss nicht mal sein, dass sie Rechengenies sind. Mein Kollege Sven zum Beispiel. Der muss von Geburt an freundlich gewesen sein. Der hat wahrscheinlich schon zu seiner Mutter im Kreißsaal gesagt: „Hallo Mama, hier ist dein Sven, schön, dich kennenzulernen.“ Und bei dem Stil ist er geblieben. Ich will nicht sagen, dass er gar nichts im Kopf hat, aber die hellste Kerze am Leuchter ist er sicher nicht. Egal, dafür hat er diese angeborene Freundlichkeit. Ich hab’s in den letzten Jahren beobachtet. Sie haben ihn im Betrieb so lange von Posten zu Posten geschoben, bis er endlich im Vertrieb gelandet war, und da reißt er jetzt alles mit seiner Freundlichkeit. Er verdient inzwischen auch mehr als ich.
Aber, Leute, ich weiß genau: Wenn ich versuche, irgendwie besonders zu sein, dann geht das voll in die Hose. Das war schon immer so. Als Junge wollte ich zu Karneval immer groß rauskommen, hab mir Gott weiß wie viel Mühe gegeben, aber am Ende hatte ich unfehlbar das falsche Kostüm an. Eines, an dem jeder vorbeischaut. Wenn ich mich verkleide, werde ich vollkommen unsichtbar. Und später, wenn es um Politik und solche Sachen ging und ich mal mit einem besonderen Statement auftrumpfen wollte, bin ich nur ins Fettnäpfchen getreten. So mit fünfundzwanzig, sechsundzwanzig hatte ich genug von diesen Lektionen und hab nur noch die Füße stillgehalten. Ich glaube, heute ist das so, dass mich die meisten Leute einigermaßen mögen, aber nur, weil sie sich mit mir nicht lange beschäftigen müssen.
Aber dann kam Corona. Und jetzt die Impfungen. Und das ist klar: In so einem Betrieb wie unserem, da lassen sich praktisch hundert Prozent der Leute impfen. Wer in so einem Betrieb wie unserem arbeitet, der ist schon von vornherein bei denen, die tun, was einem von der Regierung gesagt wird. Und ich meine das überhaupt nicht abwertend, im Gegenteil! Wäre ich nicht der Unsichtbare, der ich bin, dann wäre ich wahrscheinlich brav mit den anderen zur Impfung gedackelt. Aber ich bin nun mal einer, dem was fehlt, und der nicht mal so genau sagen kann, was ihm eigentlich fehlt. Und deshalb habe ich einfach zugeparkt. Ich habe, wie man so sagt, die Chance ergriffen, jemand zu sein, den man erkennt. Nach dem man sich umguckt. Und zu dem man sofort eine Meinung hat.
Deswegen bin ich jetzt Impfgegner. Eine Stunde hab ich gebraucht, vielleicht ein bisschen mehr, dann wusste ich über alles Bescheid. In einer Stunde kriegt man mehr Argumente gegen das Impfen aus dem Netz, als man für zehn Stunden Diskussion mit Impfbefürwortern braucht. Nebenwirkungen, Langzeitnebenwirkungen, Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Verhinderung der Herdenimmunität, Potenzierung ökonomischer Schäden, flächendeckende psychische Traumatisierung, alles ganz seriöse Argumente, ganz zu schweigen von den diversen Verschwörungstheorien. Es braucht wirklich nicht viel, sich das draufzuschaffen. Und wenn es dann in die Diskussionen geht, dann steht man da wie jemand in der Schule, der fleißig für seine Prüfung gelernt hat und den keine Frage aus der Fassung bringt. Man muss nicht überzeugt sein, man muss nur wissen, was man an der richtigen Stelle zu sagen hat. Dann kommt einem so schnell keiner bei.
Sowas kann ich. Hab ich immer ganz gut gekonnt. Und wenn ich jetzt der Impfgegner in unserem Betrieb bin, dann heißt es nicht: „Aha, der Durchgeknallte, das sieht ihm ähnlich. Am besten gar nicht beachten.“ Sondern: „Ach guck, der Manni. Das hätte man nicht gedacht. Damit muss man sich jetzt ernsthaft befassen.“
Und das tun sie. Und wie! Es vergeht jetzt kein Tag, an dem nicht einer kommt, um mich zu überzeugen. Besser: um mich zu bekehren. Und ich, ich bin nicht bockig, ich schrei nicht rum, ich flipp nicht aus, und von den Verschwörungstheorien halte ich mich fern. Also gibt derjenige irgendwann auf. Aber am nächsten Tag kommt der nächste, um es wieder mit mir zu versuchen. Auf die Art und Weise bin ich bei uns im Betrieb eine Instanz geworden, eine feste Größe. Ich bin der Impfgegner. Zu Hause funktioniert es nicht, da hat niemand was bemerkt, aber in unserem Freizeitsportverein, da funktioniert es auch, genau wie in der Nachbarschaftsgruppe. Und ob Sie es glauben oder nicht: Es sprechen mich jetzt Leute an, die ich gar nicht kenne, Bekannte von Kollegen oder von Sportfreunden, denen man von mir erzählt hat und die jetzt ihr Glück bei mir versuchen.
Und alle beißen sie auf Granit. Nein! Das ist der falsche Ausdruck. Ich tu ja niemandem weh. Ich bin einfach nur jemand, der von seinem Grundrecht auf seine eigene Meinung Gebrauch macht. Ich stehe auf dem Boden der Gesetze. Bloß, dass so, wie ich stehe, sich der Boden unter mir gehoben hat. Ich stehe jetzt einfach ein Stück höher, ich bin sichtbarer geworden. Ich bin jetzt Manni, der Impfgegner. Das ist nicht viel, und ich bilde mir nichts Großartiges darauf ein. Aber es ist mehr, als ich früher war. Viel mehr. Das fühle ich, und das fühlt sich gut an.