Corona-Brief Nr. 16

 Die Entdeckung des Schweigens unter Corona. Eine häusliche Szene  (2. August 2020)

Ein Paar im mittleren Alter. Ich nenne sie A und B, denn es geht hier nicht ums Geschlecht. A und B sind seit etwa 20 Jahren verheiratet, die einzige Tochter hat kürzlich das Haus verlassen. Beide sind berufstätig. Corona bedingt ist A in Kurzarbeit und seit zu Hause, praktisch beschäftigungslos. B hat im ehemaligen Kinderzimmer ein Home Office eingerichtet. Beide sorgen sich um die Gesundheit ihrer betagten Eltern. Zudem wäre es aufgrund gewisser Vorerkrankungen auch nicht aus der Luft gegriffen, wenn sie sich selbst als Angehörige eine Risikogruppe verstehen würden. Jedenfalls beschränken sie ihre Aufenthalte außerhalb ihres Hauses auf das absolut Nötige.

A und B waren immer stolz darauf, in ihrer Ehe alles zur Sprache zu bringen. Das war manchmal anstrengend, sehr anstrengend. Womöglich haben sie sich häufiger gestritten als andere Paare. Und womöglich waren sie verletzender als unbedingt nötig. Andererseits sind sie noch immer zusammen, und sie selbst führen das ganz wesentlich darauf zurück, dass zwischen ihnen nichts ungesagt geblieben ist und dass sie nie lange mit stummer Wut im Bauch nebeneinander her gelebt haben. Aber wohlgemerkt: Diese Einschätzung stammt von ihnen selbst. (Und sie scheuen sich nicht, es vor anderen so darzustellen.)

Und jetzt Corona. Das Leben ist anders als früher. In den letzten Jahren sind A und B morgens zur Arbeit gegangen, um sich abends wieder zu treffen, manchmal nur zu einem kurzen Austausch von Informationen. Es gab immer Reibungspunkte, aber die Zeit, sie zu erleben und zu besprechen, war beschränkt. Eigentlich lebten sie früher nur wenige Stunden täglich zusammen, im Schnitt vielleicht weniger als drei, die Schlafenszeit nicht gerechnet. Jetzt aber tun sie es vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Das Haus ist nicht klein, aber nicht groß genug, um sich nicht dauernd zu begegnen. Also reiben sie sich stärker, an den Eigenheiten des anderen, an seinen Marotten oder an der Art, wie er immer schon war. (Ich spare mir Aufzählungen und Details. So etwas führt in die falsche Richtung. Kaum hat man „Zahnpastatube“ gesagt, rutscht man unaufhaltsam ins Launige. Aber da will ich nicht hin. Hier geht es ums Prinzip.)

A und B geraten in die Krise. Ihre Beziehung ertrug ein Konfliktquantum von, sagen wir, X. Damit kamen sie zu Recht; womöglich war es ebenso sehr Belastung wie Treibstoff. Jetzt aber beträgt das Konfliktquantum 3 X, vielleicht sogar 4 X. Man muss kein Physiker sein, um zu verstehen, wie gefährlich das ist. Eine Brücke trägt vier Tonnen Gewicht, sie tut das viele Jahre, ohne dass etwas geschieht, dann fährt ein Sechzehntonner einmal darüber, und sie bricht zusammen. Ich denke, der Vergleich ist sprechend genug.

Der Lockdown beginnt Mitte März. Anfang Mai befindet sich die Ehe von A und B in der Krise, Mitte Juni steht sie so knapp vor dem Aus, dass beide das Aus deutlich vor Augen sehen und bereits viel Zeit damit verbringen, sich die Zeit danach auszumalen. (Wer bleibt im Haus? Wer zieht aus? Wer ist eigentlich wem zu Unterhalt verpflichtet? Was wird aus dem Hund? Usw.)

Da geschieht ein Wunder. – Ach Herrje! Ich wollte, ich könnte den Satz zurücknehmen. Er lässt an alles Mögliche denken, und das Allermeiste davon wäre grundfalsch. Es hilft nichts, also werde ich möglichst schnell konkret: A und B entdecken das Schweigen.

Es geschieht am 16. Juni. Auf den Anlass möchte ich nicht näher eingehen. Das muss ich auch nicht. Jeder kann sich die gereizte Stimmung zwischen A und B vorstellen, denn heute ist ja praktisch jeder ein Corona-, Lockdown und Home Office-Experte. Also lassen wir es egal sein, ob es sich um einen Fehleinkauf, eine unverschlossene Gartentür oder eine verräumte Sonnenbrille handelt. Alles ist gleich passend, bzw. unpassend. Wichtig ist nur: A redet sich in Rage, zieht Parallelen zu anderen Fällen, rollt die Geschichte dieses Falles auf und zielt erbarmungslos aufs Allgemeine, das natürlich ein negatives Allgemeines ist.

Und just in diesem Moment entdeckt B das Schweigen. Statt As Rage zu kritisieren, den Fall zum Einzelfall zu erklären und das allgemeine radikal in Zweifel zu ziehen – sagt B: nichts. B verlässt nicht den Raum und schafft es irgendwie, dass das Schweigen weder störrisch noch beleidigt oder ironisch wirkt. A bemerkt das, bringt es aber nicht zur Sprache, warum auch immer. Danach gehen A und B sich aus dem Weg, ohne dass es aussieht, als würden sie sich aus dem Weg gehen. Und schon nach weniger als einer Stunde spüren sie beide, dass der Konflikt sich verflüchtigt hat, im wahrsten Sinne des Wortes, er hat sich aufgelöst und ist verweht wie „Rauch von starken Winden“ (Gryphius: Menschliches Elende. 1637). Kurz darauf, ich glaube, noch am selben Tag, probiert es A mit dem Schweigen. Anfangs mag es bloß eine Retourkutsche gewesen sein. Aber dann spürt A wieder seine geradezu magische Wirkung. Und so geht es fort, ich muss das nicht in Einzelheiten schildern.

Wohlgemerkt, A und B wissen, dass es ein Trick ist. Das Schweigen löst die Probleme nicht, wie sollte es auch? Es löst sie nur auf Der nächste Reibungspunkte ist wahrscheinlich vorprogrammiert. Es ist Rosstäuscherei, es ist, als würde man eine frisch gewaschene Decke über einen verkratzten Tisch legen. Oder ist das vielleicht das bessere Bild: als würde man Salbe auf die aufgeschürfte Haut streichen? (Darüber muss ich noch nachdenken.) Wie auch immer – das Schweigen gebiert Schweigen. Das Konfliktquantum sinkt. Nicht dass die Beziehung jetzt gleich stabiler wäre, belastbarer, erfrischt und gestählt. Da wollen wir nicht übertreiben! Es fahren halt nur nicht mehr so schwere Laster über die Brücke.

Gegen Ende Juni hat die Beziehung von A und B wieder ihren Vor-Corona-Zustand erreicht. Ihrer beider Gedanken an die Zeit nach dem Aus sind ersetzt durch Gedanken an die Zeit nach dem Ende von Corona. As Kurzarbeit dauert leider noch an, aber mittlerweile hilft A einem Verwandten in dessen Gärtnerei, ohne Lohn, eine Arbeit, die simpel, aber anstrengend ist. B hat sich damit abgefunden, dass das Home Office womöglich zu einer bleibenden Einrichtung wird. Mitte Juli kommt die Tochter zu Besuch. Klaglos richtet sie sich in dem winzigen Zimmer ein, das bislang eher als Abstellkammer gedient hat. Sie nimmt das gerne in Kauf, denn sie genießt die Atmosphäre im Elternhaus. Sie wünschte sich, es würde in ihrer Berliner WG ähnlich entspannt zugehen.